Zukunft ist nicht einfach Schicksal

Wo gehts zum nächsten Trend? Und warum ist das von Belang? Andreas M. Walker, Co-Präsident von swissfuture, erklärt, wie Zukunftsforscher arbeiten – und welche Vorteile uns das bringt.

Quelle: Original-Interview mit Stephan Lehmann-Maldonado im UBS Magazin

Herr Walker, freuen Sie sich auf die Zukunft?
Ja. Die Zukunft ist ein Abenteuer. Ich bin dankbar dafür, heute leben zu dürfen. Unsere Vorfahren hatten viel weniger Möglichkeiten, den Lauf ihres Lebens zu bestimmen, als wir.

Was erwartet uns denn in zehn Jahren?
Erstens steigt das Durchschnittsalter der Bevölkerung in unserem Land weiter. Darum sollten wir die Vorsorge an die Hand nehmen. Ebenso wichtig ist die Anpassung des öffentlichen Raums, denn der Bedarf an bequemer Infrastruktur wächst. Ein Schritt in die richtige Richtung sind Niederflurtrams. Zweitens werden Informationen rasch und günstig verfügbar sein. Massgeblich wird künftig nicht mehr das Sammeln der Daten. Vielmehr werden deren Beurteilung und Analyse entscheidend. Von wem stammen die Informationen wirklich? Was ist relevant für mich? Firmen nutzen die Informationsmengen, um uns «massgeschneiderte » Angebote zu unterbreiten.

Dann bestimmen Computer, was uns gefallen soll …
Die spannende Frage lautet: Inwieweit wollen wir das? Nur weil die meistgelesenen Artikel auf den Zeitungsportalen prominent erscheinen, sind sie nicht unbedingt die besten – unser Leseverhalten wird durch ihre Platzierung beeinflusst. Seit 30 Jahren spricht man von Kühlschränken, die autonom Bestellungen auslösen. Aber wir kaufen weiterhin selbst ein. Und wir könnten uns längst von Astronautennahrung in Tablettenform ernähren. Doch Kochen erfreut sich zunehmender Beliebtheit!

Was unterscheidet Zukunftsforscher von Kaffeesatzlesern?
Im Gegensatz zu Kaffeesatzlesern, Wahrsagern oder Propheten arbeiten wir nicht mit übernatürlichem, sondern mit menschlichem Wissen. Unser Verein swissfuture gehört zur Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften SAGW. Wie andere Wissenschaftler entwickeln wir Modelle, die auf nachvollziehbaren Annahmen basieren. In den USA und an der Freien Universität Berlin kann man Zukunftsforschung – Strategic Foresight genannt – studieren. Der Schriftsteller William Gibson sagte vor 30  Jahren: «Die Zukunft ist bereits da. Sie ist nur nicht gleichmässig verteilt. » Wir erachten es als essenziell, schon erste schwache Signale zu erkennen und daraus Trends abzuleiten.

Was nützen uns solche Prognosen?
Zukunft ist nicht einfach Schicksal. Sie ist die Konsequenz unserer Entscheidungen, unserer Taten und Untaten. Wir zeigen auf, welche Veränderungen sich in unserer Umwelt abspielen – und wo man reagieren kann und soll. Gibt es Trends, die mir helfen? Oder Entwicklungen, die wir nicht wünschen? Ein Beispiel: Vor rund zehn Jahren beauftragte mich der Bund mit einem Projekt. Grippe gehöre als Krankheit der Vergangenheit an, dachte man damals. Doch wir erkannten, dass die Gefahr von Infektionskrankheiten mit der Globalisierung und der Mobilität zurückkehren wird. Dies half, sich frühzeitig mit Präventionsmassnahmen auseinanderzusetzen.

Immer schneller scheint ein Trend den anderen abzulösen.
Viele kurzfristige Trends kann man genauso wenig exakt berechnen wie Ausschläge an der Börse. Wir schätzen die langfristigen Folgen von Entwicklungen ab. Müssen wir beispielsweise noch Landkarten lesen können? Es gibt Smartphone-Apps, welche diese Leistung übernehmen. Derzeit debattiert man, wie die Digitalisierung unsere Kinder beeinflusst. Früher legte man Wert auf das Auswendiglernen von Fakten. Heute sind Fakten per Fingerbewegung verfügbar. Aber was bedeutet es fürs menschliche Hirn, wenn es nichts mehr auswendig lernt? Die neurologische Forschung steckt da noch in den Kinderschuhen.

Kritiker befürchten eine Volksverdummung…
Die meisten von uns konsumieren die Fortschritte in Medizin, Mobilität und Elektronik unkritisch. Zugleich gibt es in Mitteleuropa schon lange Vorbehalte gegen technische Neuerungen und eine Glorifizierung der guten alten Zeit. Die Literaturepochen der Romantik und des Naturalismus belegen das schon fürs 19. Jahrhundert. Daneben findet sich eine technikfreundliche Elite, die Innovation als Motor des Wohlstands predigt. Egal, welcher Gruppe wir angehören: Technische Veränderungen werden kommen. Darum müssen wir lernen, vernünftig damit umzugehen.

Wie wirken sich die Veränderungen auf Bankgeschäfte aus?
Der Informationsvorsprung von Banken zu Kunden schmilzt. Finanzielles Halbwissen kann man sich via Internet rasch beschaffen. Und die Produkte der Banken ähneln einander. Den Unterschied macht das Vertrauen: Habe ich einen Berater auf Augenhöhe, der über eine ähnliche Lebenserfahrung verfügt wie ich und mich versteht? Bei alltäglichen Geldgeschäften ist zudem die Verfügbarkeit wichtig. Kaum jemand mag sich an die Schalteröffnungszeiten  halten. Mobiles Banking via Smartphone, E-Banking und 24-Stunden-Erreichbarkeit gewinnen weiter an Bedeutung.

Gibt es Trends, die wir unterschätzen?
O ja. Was bedeutet es, wenn erste Schweizer Grosskonzerne in asiatische Hände gelangen? Wir zelebrieren den Individualismus, Asiaten orientieren sich am Kollektivismus. Wenn wir Randständige schützen, gründet dies immer noch auf jüdisch-christlichen und bildungsbürgerlichen Werten. Andere Kulturen haben Probleme, dies nachzuvollziehen. Auch die 24-Stunden-Gesellschaft unterschätzen wir. Während der eine Ruhe will, feiert der andere eine Party. Und wir sind pausenlos multimedialen Reizen ausgesetzt. So müssen wir neu lernen, was Erholung bedeutet. Schliesslich stösst die Individualisierung an Grenzen: Viele fühlen sich überfordert, weil sie ständig Entscheidungen treffen müssen. Ihre Reaktion: «Ich kann mir gar nicht so viele Meinungen bilden. Der Staat soll mir helfen! » Das gilt selbst für private Angelegenheiten wie Kindererziehung.

Was bleibt unabhängig vom Zeitgeist gleich?
Wir bleiben Menschen – mit denselben körperlichen, sozialen und geistigen Bedürfnissen wie eh und je. Wir werden einfach andere Lösungen für unsere Bedürfnisse suchen. Heute nutzen Jugendliche Facebook, vor 30 Jahren telefonierten sie. Doch etwas mit Freunden zu unternehmen ist immer noch mehr wert.

Quelle: Original-Interview mit Stephan Lehmann-Maldonado im UBS Magazin

Chancen und Grenzen von Zukunftsgestaltung

«2050» ist ein ferner Horizont – doch weltweite Planungen zeigen, dass eine aktive Beschäftigung mit langfristiger Zukunft sinnvoll ist. Verschiedene Methoden können helfen, die Denkfallen von exakt berechneten Fehlprognosen zu vermeiden.Hier geht’s zu meinem aktuellen Artikel zur metrobasel Vision 2050.
(S.21, S. 22-24 Tagungsbericht)

Was ist die „evangelische Familie“ der Zukunft (nicht)?

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat im Juni 2013 definiert, was er unter einer Familie versteht – und hat rund 160 Seiten dazu benötigt – als Orientierungshilfe wohl verstanden.

Dabei wird nicht ganz klar, wer sich denn nun mit Hilfe dieses Papieres orientieren soll. Die evangelischen Christen als Mitglieder dieser Kirche, die selbst Familie leben bzw. fördern wollen? Die Mitglieder der anderen christlichen Kirchen und weiterer Religionsgemeinschaften, die wissen wollen, ob sie gemeinsame Leitbilder leben oder ob sie sich distanzieren sollen? Die zahlreichen Mitmenschen, Institutionen und Bewegungen, die sich als religionsneutral oder gar religionslos neben der Kirche befinden, und die Gründe und Anlässe suchen, um die Kirche zu meiden oder gar zu verspotten und zu bekämpfen? Der Staat, der Steuergelder einsetzt, um Lebensformen gezielt zu fördern? Die Gesellschaft im Allgemeinen – wer immer das auch sei?

Konservative evangelische Kreise, die katholische Kirche und zahlreiche Freikirchen sind empört. Empört wohl weniger darüber, was der Rat der EKD auf 160 Seiten schreibt, denn viele Gedankengänge, historische und soziologische Herleitungen gesellschaftlicher Realitäten sind aus geistes- und sozialwissenschaftlicher Perspektive gut nachvollziehbar und vernünftig, ausgesprochen angenehm zu lesen im Sinne des aktuellen Mainstreams. Zahlreiche sonst sehr lautstarke Interessensgruppen, denen gegenwärtig in der politischen, behördlichen, medialen und akademischen Diskussion eine breite Plattform eingeräumt und eine wohlwollende Popularität zugestanden wird, werden sich durch dieses Papier nicht provoziert fühlen und nicht zum Kreuzzug gegen die EKD aufrufen müssen, da diese sich offensichtlich ganz gezielt im Rahmen der aktuellen political correctness bewegt.

Vielmehr entsteht die Empörung wohl darüber, was der Rat der EKD eben gerade nicht schreibt, um Orientierung im individualistischen, pluralistischen und relativistischen Zeitgeist zu geben. So findet sich im Opus der 160 Seiten der Orientierungshilfe kein Stellungsbezug für eine profilierte Definition einer Familie – weder für eine evangelische oder christliche Familie noch eine Familie im Allgemeinen:

  • weder für das Verständnis, dass Ehe und Familie göttliche Stiftungen bzw. Sakramente seien, und dass sie sich deshalb an gottgegebenen Offenbarungen jenseits von Zeitgeist, Gesellschaft und Kultur orientieren,
  • noch für ein normatives Verständnis von Ehe und Geschlechterrollen, die entsprechend aus der Bibel hergeleitet würden,
  • noch für eine Definition, dass eine Familie primär auf einer Kernfamilie aufbaue, die primär aus Eltern und Kind(ern) bestehe,
  • noch dass mit „Eltern“ ein Vater (sowohl Sex als auch Gender männlich) und eine Mutter (sowohl Sex als auch Gender weiblich) gemeint seien,
  • noch für ein Primat irgendwelcher Art eben dieser Lebensform von Vater – Mutter – Kind gegenüber Alleinerziehenden, Patchworkfamilien und gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften,
  • noch für das Primat der Erziehungsberechtigung bei den Eltern gegenüber dem Staat oder sonstigen Institutionen.

 Der Rat der Evangelischen Kirchen Deutschlands schlägt nicht den Weg der Profilierung, sondern den der Political Correctness und des Pluralismus ein, um die Zukunft der Familie zu sichern – was immer auch Familien sein werden unter den Prämissen von „Verbindlichkeit, lebenslange Verlässlichkeit, Verantwortung und Sorge füreinander, Geschlechtergerechtigkeit“. Was das wohl an Novellierungen in Gesetzestexten, behördlichen Weisungen und Stiftungszwecken nach sich ziehen wird? Ein Schalk, wer böses dabei denkt … hier geht es nicht einfach um Privatleben und Moral, sondern um sehr viel „öffentliches“ Geld, das (um)verteilt wird unter dem Titel der Familie, die eigentlich mal als Kernzelle der Eigenverantwortung galt …

Wer für sein persönliches Leben oder für sein gesellschaftliches Verständnis an einen der oben erwähnten definitorischen Ansätze glauben möchte, wird wohl nicht auf die Evangelische Kirche in Deutschland als Verbündeten zählen können.

Welchen Weg die reformierten Kirchen und Theologen der Schweiz einschlagen werden? Ob auch wir als Synode der evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt über unser Ehe- und Familienverständnis diskutieren werden?

Literatur:

Im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland herausgegeben vom Kirchenamt der EKD (2013) Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken – Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05972-3, oder via Internet

Päpstlicher Rat für die Familie (2000) Ehe, Familie und die „faktischen Lebensgemeinschaften“, via Internet

Die Zukunft der akustischen Landschaft Schweiz – eine Analyse von langfristigen Megatrends

Unsere Studie für das Bundesamt für Umwelt ist heute publiziert worden, sie ist via Internet als pdf in Deutsch, Französisch und Englisch verfügbar.

Auftrag

Um Impulse zur Entwicklung der zukünftigen Strategie der Lärmbekämpfung zu liefern, sollen lärmrelevante Zukunftstrends erkannt, beschrieben und mit Hilfe der DPSIR-Methode analysiert werden. Dabei soll einerseits ein langfristiger Zeithorizont gewählt werden, andererseits soll auf die bekannten und in der Fachwelt als wahrscheinlich angenommenen Trends fokussiert werden. (Kapitel 2)

Methodik

Um diese Trends beschreiben und analysieren zu können, soll mit sogenannten Megatrends gearbeitet werden. Megatrends sind langfristige soziale, ökonomische, politische oder technische Veränderungen, die Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Technologie über mehrere Jahrzehnte hinweg strukturell beeinflussen. Dabei gibt es keine verbindliche Definition und keinen abschliessenden Katalog, was Megatrends sind, vielmehr sollen diese aus relevanten Zukunftsstudien abgeleitet werden. (Kapitel 3.5.)

Um bewusst langfristig analysieren zu können, soll der Zeithorizont „2050“ verwendet werden, wobei dies nicht im kalendarischen Sinne gemeint ist. Vielmehr geht es darum, bewusst mit einem Zeithorizont zu arbeiten, der die üblichen politischen und behördlichen Planungs- und Entscheidungs-Zyklen übersteigt. Das Jahr 2050, also ein Zeithorizont von rund 40 Jahren, steht also als symbolischer Zeithorizont für nachhaltiges Planen. Die Chance einer derartig langfristigen Betrachtungsweise besteht darin, dass im Sinne der Früherkennung Veränderungen aufgespürt werden, die heute erst als schwache Signale eingestuft werden. Sie erscheinen somit heute gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich vielleicht noch nicht als relevant, könnten aber zukünftig sehr wohl eine grosse Bedeutung haben – sowohl als Risiko aber auch als Chance. (Kapitel 3.3, 5)

Zur Analyse der langfristigen Megatrends soll das DPSIR-Modell der Europäischen Umweltagentur als eine wichtige Methode zur Arbeit mit Umweltinformationen angewendet werden. Dabei zeigt die vorliegende Studie, dass die vorgegebene DPSIR-Methode an ihre Grenzen stösst, da Megatrends nicht einfach isolierbare „Driver“ mit eindeutiger Wirkungsweise sind, sondern ein komplexes Konglomerat von Treibern, Belastungen, neuen Zuständen, Wirkungen, Nebenwirkungen und Rückkopplungen darstellen, die aufgrund der Randbedingungen dieser Studie nicht tiefer behandelt werden konnten. (Kapitel 3.7, Anhang 1 Kapitel 8.2)

Weitere Methoden zur vertieften Beschäftigung mit möglichen zukünftigen akustischen Landschaften in der Schweiz sind das Arbeiten mit Zukunftsszenarien, das Arbeiten mit Wild Cards bzw. Black Swans, sowie die Modellierung von qualitativen oder quantitativen Prognosemodellen. Auf diese Methoden wurde aufgrund der Randbedingungen dieser Studie verzichtet. Die vorliegenden Erkenntnisse, Beschreibungen der Megatrends sowie Detailanalysen im Anhang stellen aber eine geeignete Grundlage für eine entsprechende Weiterarbeit dar. (Kapitel 3.6)

Megatrends

Aufgrund der Literaturrecherche wurden folgende acht Megatrends ausgewählt (Kapitel 3.5 und 6):

Tabelle 1: Kurze Beschreibung der acht Megatrends

Demografische Entwicklung Bevölkerungswachstum global und in der Schweiz, Migration in die Schweiz hinein, Strukturwandel in der Bevölkerung durch Langlebigkeit und niedrige Geburtenziffer
Technischer Fortschritt Fortschrittsglaube, Technikakzeptanz, Informations- und Kommunikationstechnologie, Digitalisierung, Cyber Space, Miniaturisierung, Datenschutz, Human Enhancement, Nebenwirkungen, Umweltbelastungen, Systemrisiken, Ethik
Globalisierung globale Vernetzung und Mobilität, Migrationsströme, Internationalisierung von Wirtschaft und Politik, Bedeutungszuwachs der supranationalen Organisationen
Verschärfung der ökologischen Situation Verknappung natürlicher Ressourcen, insbesondere fossile Energiequellen, Klima und Witterung, Ökosysteme, Biodiversität, Abfall
Urbanisierung Megacities, Verstädterung, verdichtetes Bauen, Nutzungsdurchmischung, globale Durchmischung der städtischen Kulturen und 24-h-Gesellschaft
Wirtschaftlicher Strukturwandel zur Informationsgesellschaft Weiterentwicklung von III. zum IV. Sektor und Dominanz des quartären Sektors in der Schweiz, Cyber Space, New Work
Komplexitäts-, Vernetzungs- und Mobilitätszunahme inkl. zunehmender Interaktionen und Kommunikation
Wachsende Bedeutung des Lifestyle of Health and Sustainability LOHAS als neuer Leitkultur Langlebigkeit, Wohlstand in der zweiten Lebenshälfte, hohe Sensibilität für persönliche Gesundheitsfragen, für ökologische und sozialethische Anliegen, persönliche Bereitschaft in technische und medizinische Innovationen zu investieren

Thesen als Fazit

Als Fazit der auf den Megatrends aufbauenden DPSI(R) Methode werden elf Thesen formuliert (Kapitel 7 und Anhang 1 Kapitel 8.2 bis 8.5):

T1 „Ruhe“ ist auch zukünftig ein wichtiger Standortfaktor für Wohnen, Wirtschaft und Erholung, aber durch zahlreiche Entwicklungen ist dieser Standortfaktor in unterschiedlicher Weise gefährdet.
T2 „Durch die Zunahme von Interaktion und Mobilität bleibt die Eindämmung und Lenkung von „Mobilitätslärm“ eine zentrale Aufgabe der Lärmpolitik.“
T3 „Der technische Fortschritt wird grosse Erfolge an technischen Lärmquellen ermöglichen – wenn dieser Fortschritt entsprechend gefordert und gefördert wird.“
T4 „Technische Standards werden globalisiert werden.“
T5 „Der gesellschaftliche Konsens über Tageszeiten geht verloren, insbesondere über Mittags- und Nachtruhe sowie Feiertagsruhe.“
T6 „Der gesellschaftliche Konsens über das Verständnis von Lärm und Ruhe geht verloren.“
T7 „Nachbarschaftliche Konflikte aufgrund störender Geräusche werden zunehmen und aggressiver ausgetragen.“
T8 „Der Umgang mit Alltags- und Freizeitlärm wird an Bedeutung für die Lärmpolitik gewinnen. Diese Problematik kann nicht mit den bisherigen, quantitativ orientierten Ansätzen bewältigt werden.“
T9 „Im urbanen Raum wird das Bedürfnis nach Ruhe-Inseln in Fussdistanz zum Arbeitsplatz und zur Wohnung stark ansteigen.“
T10 „Die Akzeptanz von künstlichen Indoor-Lösungen als Erholungs- und Ruheräume wird steigen“
T11 „Umgang mit Lärm wird Bestandteil eines umfassenden Gesundheitsverständnisses werden.“

 

Herbsttagung 2012: Ein Blick auf 2050

SGVW-Herbsttagung 2012 in Kooperation mit swissfuture

Freitag, 23. November 2012, 09.00 – 16.00 Uhr, Universität Bern, von Roll-Areal, Hörsaal 104, Fabrikstarsse 6, 3012 Bern

Ein Blick auf 2050: Zukünftige Herausforderungen des Staates angehen und gestalten

„Gouverner c’est prévoir“ – Dieser Leitsatz staatlichen Handelns stellt Politik und Verwaltung in einer zunehmend vernetzten und komplexen Welt, die einem ständigen Wandel ausgesetzt ist, vor steigende Anforderungen. Verlässliche Prognosen über mittel- bis langfristige Entwicklungen werden durch wachsende Unsicherheit erschwert. Trotzdem ist die Politik für Planungs- und Investitionsentscheide auf verlässliche Zukunftsannahmen angewiesen. Die Tagung befasst sich mit einzelnen Treibern des Wandels, die unsere Gesellschaft und den Staat in den nächsten Jahrzenten prägen werden und zeigt auf, wie mittels Szenarien die Entscheidungsträger von heute bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützt werden können.

Unter der Moderation von Dr. Katja Gentinetta, Gesprächsleiterin beim Schweizer Fernsehen, sprechen und diskutieren folgende Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft:

  • Dr. Guy Morin, Regierungspräsident Kanton Basel-Stadt
  • Markus Notter, ehem. Regierungsrat Kanton Zürich
  • Heinz Karrer, CEO Axpo Holding AG
  • Dr. Hans Werder, Verwaltungsrat Swisscom
  • Dr. Lorenzo Cascioni, Leiter Sektion Planung & Strategie Bundeskanzlei
  • Dr. Peter Grünenfelder, Staatsschreiber Kanton Aargau
  • Yves Rossier, Staatssekretär im Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA)
  • Dr. Andreas Schächtele, Generalsekretär Departement Bildung, Kultur und Sport, Kanton Aargau
  • Prof. Dr. Daniel Wachter, Leiter Nachhaltige Entwicklung, Bundesamt für Raumentwicklung
  • Georges T. Roos, Vorstand swissfuture
  • Dr. Daniel Müller-Jentsch, Avenir Suisse
  • Dr. Andreas M. Walker, Co-Präsident swissfuture
  • Prof. Dr. Torsten Wulf, Philipps-Universität Marburg

Die Tagung richtet sich an ein politisch interessiertes Publikum, an Mitglieder der politischen Exekutive und Legislative, Führungskräfte der Verwaltung in Städten und Gemeinden, in den Kantonen und im Bund, an die Vertreter der Wissenschaft und an ein interessiertes Fachpublikum.

Weitere Informationen und Anmeldung hier.

Megatrends mit spezifischer Relevanz für die Zukunft der Sicherheit

Im Rahmen der swissfuture-Studie „Wertewandel Schweiz 2030 – der künftige Wert der Sicherheit“ hat eine Expertengruppe evaluiert, welche Megatrends von besonderer Bedeutung für die Sicherheitsfrage der nächsten Jahre sein werden. Der folgende Text ist aus dieser Studie entnommen, die ich gemeinsam mit Georges T. Roos und Francis Müller im Auftrag von swissfuture und Dank freundlicher Unterstützung des Bereiches Sicherheitspolitik des VBS und des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz verfasst habe:

 

Megatrends mit Sicherheitsrelevanz

Wir gehen in dieser Studie aus methodischen Gründen von der Annahme aus, dass in den nächsten zwanzig Jahren keine „Wild Cards“ eintreffen werden. Der Einfluss potentiell möglicher Wild Cards würde die Szenarien einseitig und sehr spekulativ machen. Wir nehmen also beispielsweise an, dass in Mitteleuropa kein Krieg ausbrechen wird, dass die europäische Gesellschaft nicht durch eine Seuche oder Katastrophe dezimiert wird und dass die EU nicht in nationalistische Einzelstaaten auseinandergebrochen ist. Wir gehen vielmehr davon aus, dass bestimmte Einflussfaktoren den zukünftigen Wertewandel vorantreiben und entwickeln die folgenden sicherheitsrelevanten Megatrends, die in allen vier Szenarien wirksam sein werden – und die wir entsprechend nicht variieren:

Machtverschiebung zu einer multipolaren Weltordnung

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sprach der Soziologe Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ und dem definitiven Siegeszug des euro-amerikanischen Demokratieverständnisses. Wegen des Zerfalls der Blöcke und der aufstrebenden Länder ist die Welt jedoch multipolarer geworden. In Mittelosteuropa sind neue „alte“ souveräne Staaten entstanden, die in ihrer frisch gewonnen Unabhängigkeit gegenüber der EU hadern. Und spätestens mit 09/11 ist die angeblich tot gesagte Geschichte der konfrontativen und gewaltbereiten Machtpolitik zurückgekehrt. Die ökonomische und militärische Vormachtstellung der transatlantischen Staaten wird von Indien, China und Brasilien und anderen „Emerging Markets“ zunehmend in Frage gestellt. Die „E7“ (Indien, Brasilien, Türkei, Mexiko, China, Russland und Indonesien) werden zu den „G7“ aufschliessen. China und Indien – so Pricewaterhouse-Coopers im Bericht „The World in 2050“ – werden den USA den Spitzenrang als wirtschaftlicher Grossmacht streitig machen. Dem ökonomischen Machtkampf folgt der politische und der militärische. Noch fällt ungefähr die Hälfte der globalen Rüstungsausgaben auf die USA. China erhöhte jedoch seine Militärausgaben gemäss dem „Yearbook 2010 Military Expenditure “ des Stockholm International Peace Research Institute im Jahr 2009 um 15%, Indien um 13% und Brasilien um 24%. Die Wachstumsraten sind hoch, der Anteil gegenüber den USA allerdings immer noch moderat. Eine neue Weltordnung wird entstehen.

Zunehmende Bedeutung von Non-State-Actors

Das 19. und 20. Jahrhundert waren die Blütezeit der Nationalstaaten. Heute sind zunehmend nichtstaatliche Akteure im globalpolitischen Geschehen aktiv. Zu den Non-State-Actors gehören beispielsweise globale Unternehmen, Hedge Fonds Managers, nichtstaatliche Organisationen (NGO), Terror-Organisationen, Warlords, Organisationen der organisierten Kriminalität, zivile und kommerziell motivierte Sicherheitsfirmen der inneren und äusseren Sicherheit und Religionsgemeinschaften. Viele möchten ihre Werte globalisieren – seien dies ökonomische Paradigmen oder ideologische Überzeugungen. Non-State-Actors sind nicht an Territorien gebunden und entziehen sich häufig gezielt den nationalstaatlichen Gesetzgebungen. Zahlreiche dieser Non-State-Actors sind nicht als hierarchische, klar strukturierte Organisationen aufgebaut, sondern funktionieren als Netzwerke, deren Zellen autonom Kompetenzen entwickeln. Neue Kommunikationsmedien verbreiten Inhalte schneller und erhöhen die Anzahl der Empfänger. Non-State-Actors gehen sehr kompetent mit diesen Medien um, dabei sind sie häufiger agiler und effektiver als staatliche Organisationen. Sie gewinnen so breitere Aufmerksamkeit – und je nachdem mehr Unterstützung oder auch Ablehnung.

Wechsel der machtpolitischen Instrumente

Zwischen Nationalstaaten wird immer weniger der klassisch-konventionelle Krieg erklärt, dessen Ziel es ist, Territorien und Hauptstädte zu erobern. Stattdessen kommt es zu erpressungsähnlichen Drohungen von Staaten und grossen Institutionen – auch von Non-State-Actors wie zum Beispiel NGO, die zunehmend den medialen Pranger einsetzen, um eine (sich empörende) Öffentlichkeit zu mobilisieren. Es gibt einen Krieg der Bilder und der Symbole. Viele Konflikte werden ökonomisch ausgetragen. Als Machtmittel dienen Industriespionage, Rechtsauffassungen, Embargos, Rohstoffe, böswillige Transaktionen an den Börsen um dem Wert von Landeswährungen oder Aktien zu schaden und natürlich die Aufmerksamkeitsökonomie. Die Komplexität ökonomischer Systeme und die Abhängigkeit von kritischen Infrastrukturen ist am steigen, wobei gleichzeitig die Vernetzung der kritischen Infrastrukturen zunimmt –und so deren Verletzlichkeit.

Verschärfter globaler Wettbewerb um Ressourcen

Der wirtschaftliche Aufstieg von Schwellenländern und die globale Zunahme an Wohlstand erhöhen den Rohstoff-Bedarf. Der technologische Fortschritt und die zunehmende Substitution von Erdöl als Energieträger durch Elektrizität verlangt nach neuen Rohstoffen, deren Primärproduktion und Lagerstätten geographisch ungleichmässig verteilt sind. Im Jahr 2008 stammten beispielsweise 95% der weltweit hergestellten seltenen Erden, die vor allem in der Hightech-Industrie eine zentrale Rolle spielen, aus China. Der Westen verliert zunehmend seinen Einfluss auf rohstoffreiche Länder. Er steht als ehemaliger Kolonialist in keiner guten Verhandlungsbasis, zumal er im internationalen Handel immer weniger Fragen der Menschenrechte und der Demokratie ausklammern kann. Und wie schon häufig in der Geschichte kommt den ressourcenreichen Staaten ökonomisch und machtpolitisch eine Schlüsselrolle zu (siehe oben: Machtverschiebung).

Wachsende Verletzbarkeit kritischer Infrastrukturen

Moderne Gesellschaften sind auf hochkomplexe, technische Infrastrukturen angewiesen, damit sie funktionieren. Diese Infrastrukturen – etwa Transportsysteme, Pipelines, Elektrizitätsinfrastrukturen und Alarmierungssysteme – sind abhängig von Informations- und Kommunikationstechnologien. Diese Abhängigkeit macht diese Infrastrukturen zu „kritischen“. Die bestehenden Infrastrukturen müssen in Stand gehalten werden, neue müssen gebaut werden. Beides erfordert hohe Investitionen. Durch ihre Komplexität sind sie verletzlich und können durch verschiedene Gefährdungen aus den Bereichen Natur, Technik und Gesellschaft beeinträchtigt werden. Sie können auch durch einen virtuellen Anschlag sehr real gefährdet werden. Innerhalb der vier Szenarien wird die Frage variiert, wer diese Infrastrukturen schützen soll.

Information wird schneller verbreitet und verfügbarer

Die Geschwindigkeit der Verbreitung von Information und der einfache Zugang zu ihr haben nie dagewesene Dimensionen angenommen. Bibliotheken sind Online. Internetplattformen wie Wikileaks veröffentlichen Staats- und Betriebsgeheimnisse. Der Begriff des Privaten und des Öffentlichen werden neu definiert – die Kontrolle der Öffentlichkeit durch staatliche Organe wird erschwert. Das Aufrechterhalten von Privatsphäre und Datenschutz wird zunehmend schwierig. Jeder kann Informationen – und insbesondere auch Gerüchte, gezielte Falschmeldungen und Verschwörungstheorien über politische oder ökonomische Sachverhalte – in kurzer Zeit weltweit verbreiten und so Börsen oder politische Stimmungen manipulieren. Vieles wird transparent – und bleibt zugleich aufgrund der steigenden Komplexität und Informationsflut intransparent. Dies fördert ein neues Informationsverhalten und neue Partizipationsbedürfnisse der Menschen. Die Informationshoheit gewinnt, wer Informationen rasch analysiert, aufbereitet und breit zugänglich macht. Dank Social Media können sich Smartmobs sehr schnell formieren und politische Machtverhältnisse verändern, was die Ereignisse in der arabischen Welt anfangs 2011 gezeigt haben. Da elektronische Dokumente sehr schnell in unerwünschte Hände gelangen können und sowohl in Text- wie auch in Bildform zunehmend einfach gefälscht werden können, kommt es zu einer Aufwertung persönlicher Beziehungen, um die Glaubwürdigkeit der Absender und der Dokumente tatsächlich verifizieren zu können.

Cyberspace als neuer Tatort und neues Schlachtfeld

Die Internetkriminalität nimmt dramatisch zu – und sie entzieht sich aufgrund ihres virtuellen und extra-territorialen Charakters der nationalstaatlichen Gesetzgebungen. Raubzüge finden innerhalb virtueller Welten statt – durchgeführt von realen Tätern, die sich im virtuellen Raum verstecken. Gerade weil „nur“ der virtuelle Raum zum Schlachtfeld wird, entsteht gelegentlich ein falsches Sicherheitsgefühl. Die Wirtschaft wird virtuell angreifbar – und sie muss hohe Beträge tätigen, um die Sicherheit ihrer Produktion, ihrer Mitarbeitenden und ihrer Kunden zu gewährleisten. Insbesondere Kundeninformationen werden zu einer wertvollen Ressource. Die Vernetzung kann systemtheoretisch eine höhere Stabilität bedeuten, aber zugleich auch eine höhere Verletzlichkeit, da sich mehr Angriffspunkte ergeben. Durch hochpräzise und technologisch komplexe Waffensysteme und Wirkmittel, die über Informations- und Kommunikationsinfrastrukturen untereinander und mit den Führungszentren vernetzt sind, können militärische Streitkräfte agiler und wirkungsvoller geplant werden. Trotzdem benötigt die Mediation von zukünftigen Konflikten immer noch grosse Mannschaftsbestände.

Wird „Sicherheit“ zukünftig noch ein gesellschaftlicher Wert in der Schweiz sein?

Vorwort zur Studie Der künftige Wert der Sicherheit“ – eine Vertiefung zu „Die Schweiz 2030 – vier Szenarien“

Sicherheit ist in der Schweiz ein wichtiger Wert. Die Bundesverfassung sieht den Zweck der Schweizerischen Eidgenossenschaft unter anderem darin, die Freiheit und die Rechte des Volkes zu schützen und die Unabhängigkeit und Sicherheit des Landes zu wahren.

Sicherheit ist ein wichtiger, aber kein absoluter Wert. Die Wahrnehmung von Sicherheit, die Aversion gegenüber naturbedingten, technischen oder gesellschaftlichen Gefährdungen und die Bereitschaft, in Schutz und Sicherheit zu investieren, verändern sich in Abhängigkeit von den zugrunde liegenden Werten. Der Wertewandel in der Gesellschaft steht dabei in einem Wechselspiel mit der Thematisierung von Sicherheit und Risiken in der Öffentlichkeit und mit der sich objektiv verändernden Sicherheitslage. Diese Studie beschäftigt sich mit der zukünftigen Sicherheitspolitik unter dem Aspekt des Wertewandels. Ein Wertewandel kann zu Gesetzes-, ja sogar zu Verfassungsänderungen führen. Auch das Verständnis in der Öffentlichkeit, wer für welche Art von Sicherheit zuständig ist, wandelt sich letztlich unter dem Einfluss von Wertesystemen. Und auch die Diskussion, wie viel Sicherheit kosten darf, oder wie die Aufgabenteilung zwischen (Miliz-)Armee, kantonaler Polizei und kommerziellen Sicherheitsunternehmen aussehen soll, ist Ausdruck des Wertewandels.

Aufbauend auf der Hauptstudie «Wertewandel in der Schweiz 2030. Vier Szenarien» und den dortigen Erkenntnissen zum künftigen Wertewandel wurden im Dezember 2010 Fachpersonen aus den Bereichen der inneren und äusseren Sicherheit sowie dem Schutz kritischer Infrastrukturen zu einem Workshop bzw. zu bilateralen Gesprächen eingeladen. Für diese Austauschrunden wurden Experten aus Bund, Kantonen, Wirtschaft, Universitäten und Medien berücksichtigt. (Die ebenfalls in der Verfassung erwähnte soziale Sicherheit war nicht Gegenstand der Studie, sie findet aber als Rahmenbedingung Berücksichtigung.) In der Diskussion wurden die Szenarien der Hauptstudie vertieft. Dabei wurden beispielsweise die Fragen erörtert, in welchem Wechselspiel das Sicherheitsempfinden und spezifische Sicherheitsbedürfnisse mit dem gesellschaftlichen Wertewandel stehen, welche Wertehaltungen Einfluss auf das Sicherheitsverständnis nehmen und wie sich die Spannungsfelder zwischen den Werten Freiheit und Sicherheit sowie Individualismus und Solidarität entwickeln könnten.

Als Resultate dieser Gespräche werden in dieser Vertiefungsstudie in einem einführenden Kapitel Megatrends beleuchtet, die besonderen Einfluss auf die Werte rund um die Sicherheit haben. Die Szenarien stellen als Bilder möglicher Zukünfte die sicherheitsspezifische Vertiefung der vier Wertewandel-getriebenen Szenarien aus der Hauptstudie dar. Auf katastrophale Ereignisse, die zu einem überraschenden Bruch in den Szenarien führen würden, wurde bewusst verzichtet.

Welchen Wert hat Sicherheit in einer zukünftigen Schweiz im Szenario Ego, in dem die Betonung individueller Freiheit und der Glaube an (technische) Machbarkeit zu einer Dominanz von Leistung und Wettbewerb führen und der Fokus auf dem Schutz der kritischen Infrastrukturen liegt, die notwendige Grundlagen für die wirtschaftliche Prospe rität sind? Wie könnte in einem Szenario Clash die Werte-Zukunft aussehen, wenn es in einer soziokulturell auseinanderdriftenden Schweiz zu fraktionierten Parallelgesellschaften kommen wird, so dass die öffentliche Ruhe und Sicherheit keine Selbstverständlichkeit mehr sein werden? Was bedeutet es, wenn im Szenario Balance harmonische Verhandlungslösungen im Zentrum stehen und in dieser zukünftigen Schweiz Integration, Partizipation und Solidarität dominierende Werte in der Sicherheitsdiskussion sein werden? Oder wie könnte Sicherheit im Szenario Bio Control aussehen, in dem eine zukünftige Bevölkerung der Schweiz strikte Normen und verbindliche ethische Standards formuliert, diese Werte internalisiert und deren Einhaltung kontrolliert und rigide durchsetzt?

Diese Szenarien machen keine Aussagen zur Eintretenswahrscheinlichkeit oder zur politischen Wünschbarkeit. Sie wollen als Spiegel zur Überprüfung aktueller Visionen, Strategien und Konzepte und ihrer Zukunftstauglichkeit dienen. Sie wollen zur Bereicherung der Diskussion dienen, indem sie den Brückenschlag ermöglichen wollen zwischen der fachlichen Diskussion künftiger Risiken einerseits und der politischen Diskussion andrerseits. Diese Szenarien wollen zur Diskussion herausfordern, in welcher Form und zu welchem Preis der Wert Sicherheit in Zukunft in der Schweiz gestaltet werden soll.

Dr. Andreas M. Walker, Co-Studienleiter

Erleben wir eine Renaissance des Nomadismus?

Vom Jäger zum Bauern

Die Menschheitsgeschichte lehrt uns, dass wir ursprünglich Jäger und Sammler waren. Zwischen dem achten und fünften Jahrtausend fand in Süd- und Mitteleuropa der Übergang zum sesshaften Bauerntum statt. Wir begannen, den Acker zu bestellen und Vieh zu halten. Als früherer Seitenzweig zu dieser Entwicklung entstand der Nomadismus, indem Hirten, teilweise mit dem ganzen Hausrat, zyklisch den Futterplatz des Vieh und somit auch den eigenen Wohnplatz wechselten. Übrigens sind wichtige religiöse Vorstellungen in unserem Kulturkreis von den Übergängen zwischen Nomadismus und Sesshaftigkeit geprägt: die Wurzeln der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam gehen auf solche Persönlichkeiten und Erlebnisse zurück, viele unserer religiöse Denkmuster und Werte entstammen dem Lebensumfeld von wandernden Hirten und sesshaft gewordenen Bauern.

Das Territorium

Mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit wurde der Wert der „Heimat“ nicht mehr primär durch das soziale Beziehungsnetz, sondern durch die Zugehörigkeit zu einem Territorium innerhalb von räumlichen Grenzen definiert. Die Entstehung der verfassungsmässig begründeten Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert fixierte das Denken in den Kategorien „Territorium“ und „Grenzen“ geradezu normativ. Reichtum wurde definiert durch die Verfügungsgewalt über Ländereien und Gebäude sowie über Menschen, die diese bewirtschafteten. Diese Ordnung machte Sinn: der eigene Lebenshorizont wurde sichtbar, Stabilität schaffte Ruhe, durch Grenzen definierte Territorien konnten völkerrechtlich und militärisch verteidigt werden. Die Identität wurde nicht mehr primär als Zugehörigkeit zu einem „Volk“ durch Abstammung oder durch Religion, Hautfarbe oder Sprache sondern als „Bürger einer Nation“ durch ein Territorium definiert. Der Wert der Sesshaftigkeit und des Immobilienbesitzes sind fest in unserer Kultur verankert, so fühlen sich auch in aktuellen Studien Besitzer glücklicher als Mieter und 95% wohnen gerne in der Region, in der sie sich niedergelassen haben.[1]

Mobile Sondergruppen

Dabei wies auch die sesshafte Kultur während der ganzen Epoche Sondergruppierung auf, die hoch mobil waren:

  • Krieger und Söldner, die gerade in der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft eine grosse Bedeutung hatten, bis der Schweizer Nationalheilige Niklaus von der Flüh mit seinem Ratschlag „Mischt Euch nicht in fremde Händel“ den Grundgedanke der schweizerischen Neutralität begründete,
  • reisende Händler, die sowohl für Brückenstädte wie Basel aber auch für den Alpen-, Pässe- und Gotthardmythos wirtschaftlich entscheidend waren,
  • religiös motivierte Pilger und Wanderprediger, die auf einem der Jakobswege nach Santiago di Compostella unterwegs waren und die Wichtigkeit des Kloster Einsiedelns als Wallfahrtsort begründeten
  • Bildungsreisende, die sich sowohl an den alten Pilgerrouten orientierten, aber auch auf den Spuren von Goethe und Schiller, den grossen Dichtern der Klassik, den Weg in die Schweiz und nach Italien suchten. Die Lektüre dieser Bücher, gepaart mit den Mythen von Natur und Ursprünglichkeit in der Romantik und der Idealisierung der Schweiz als Hort von Freiheit und Demokratie waren die Grundlagen für den Wert des Tourismuslandes Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert.

Ausnahmen werden zur Regel

Diese Typen, die in einer sesshaft gewordenen Kultur eigentlich Ausnahmeerscheinungen sind, sind in einer neuen Form seit einigen Jahren wieder allpräsent: Söldner und Handelsreisende sind verschmolzen zum Arbeitsplatzpendler und Geschäftsreisenden. Pilger und Bildungsreisende sind verschmolzen zum Touristen und Freizeitserlebnis-Suchenden, wobei meistens Abwechslung zur Arbeit, Erholung und Spass das treibende Motiv sind.

Die Bautechnik hilft uns, naturräumliche Grenzen und Hindernisse zu überwinden. Moderne Verkehrsmittel helfen uns, Distanzen zu überwinden. Territoriales Denken scheint in vielen Bereichen überholt, da alte Grenzen und Distanzen nicht mehr relevant sind. Verkehr ist auf diesem Wege sehr schnell und insbesondere sehr billig geworden.

Das „Gen des Unterwegs-Sein“, das identitätsstiftend für Jäger, Sammler und Nomade war, und primär wirtschaftlich und militärisch nötig war, und das „Gen der Sesshaftigkeit“, das nach Heimat und materiellem Immobilienbesitz drängt, werden immer häufiger von einer Person innerhalb eines Lebensabschnittes gleichzeitig gelebt. Aufgrund der Megatrends von Globalisierung, Mobilität, Flexibilität, Geschwindigkeit und Individualität entsteht ein neuer Nomaden-Typus.

Die schnelle und billige Überwindbarkeit von Grenzen und Distanzen ist einer der wichtigen Werte unserer Gesellschaft geworden. Der grösste Teil unserer Gesellschaft profitiert von den Vorteilen der Sesshaftigkeit – und ist gleichzeitig Tageszeit- oder Wochenend-Nomade – auf dem Weg zur Arbeit, zum Einkauf, zur Erholung oder zu Freunden. Dabei hat sich die Geschwindigkeit verzwanzigfacht: von 5 km/h auf über 100 km/h.

Neue Grenzen

Doch seit kurzem tauchen neuartige Grenzen am Horizont auf:

  • die Grenze der billigen Verfügbarkeit von fossilen Brennstoffen als Voraussetzung, dass Verkehr so billig bleibt und somit für die Masse erschwinglich bleibt,
  • die Grenze des verfügbaren Verkehrsraumes, der immer stärker in Konkurrenz zu Wohn- und Arbeitsraum steht, insbesondere weil Verkehr durch Lärm und Luftschadstoffe einen „Schattenraum“ beansprucht, der immer weniger akzeptiert wird,
  • die Grenze der Selbstregenerierung der Luft und des Klimas als Lebensgrundlage.

40 JAHRE SWISSFUTURE – 40 JAHRE ZUKUNFTSDEBATTE IN DER SCHWEIZ

Editorial für das swissfuture Magazin 2010/3, das Ende September erscheinen wird:

Sehr geehrte Leserin,
sehr geehrter Leser

Bundespräsidentin Doris Leuthard fordert in ihrer 1.-August-Ansprache eine Debatte über die ferne Zukunft der Schweiz. Wann wird diese „ferne Zukunft“ stattfinden? Unsere Bundespräsidentin selbst gibt in ihrer 1.-August-Ansprache die Antwort, wann die ferne Zukunft beginnt: in 10 Jahren. Diese Antwort erstaunt uns.

Wenn der Zeithorizont durch die Medienlandschaft definiert wird, in der die Tageszeitung am Frühstückstisch bereits alt ist, weil sie nur Mitteilungen von gestern erhält und Neuigkeiten binnen Minuten ins Internet finden, liegt dieser Horizont tatsächlich weit weg. Auch beim Blick auf die Finanzmärkte, die sich auf Quartalszahlen stützen, sind 10 Jahre eine ferne Zeit. In der Politik ist die Legislaturperiode von 4 Jahren ein wichtiger Zeitraum, 10 Jahre wären 2 ½ Legislaturperioden – kaum vorhersagbar, wie dann die Zusammensetzung unseres Parlamentes aussehen wird. 58% der Bundesräte der letzten 100 Jahre und 59% der aktuellen Parlamentsangehörigen sind kürzer als 10 Jahre im Amt. Somit liegt die Vermutung nahe, dass die 10 Jahre symbolisch interpretiert werden sollen: es geht darum weiter zu denken als der eigene Zeithorizont.

swissfuture wurde vor 40 Jahren gegründet, um diese Zukunftsdebatte über die ferne Zukunft der Schweiz auf akademischem Niveau zu ermöglichen.

Texte unserer Vereinsgründer Prof. Dr. Bruno Fritsch und Dr. Gerhard Kocher aus dem Jahr 1970, die als Gründungsmanifeste verstanden werden dürfen, bilden den Auftakt unseres Heftes zum 40-Jahres-Jubiläum. Diese Texte plädieren dafür, Zukunftsforschung als eigene akademische Disziplin zu positionieren. Dieses Ziel haben wir in der Schweiz noch nicht erreicht. In Deutschland kann seit diesem Jahr an der Freien Universität Berlin der weiterbildende Masterstudiengang „Zukunftsforschung“ belegt werden. Das St. Galler Zentrum für Zukunftsforschung ist wieder verschwunden. An der ETH Zürich können im Rahmen der Bauwissenschaften Studiengänge zu Raumplanung und Raumentwicklung belegt werden. Unsere Mitgliedschaft bei der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften ist ein wichtiger Faktor auf diesem Weg in der Schweiz.

Vorstandsmitglied Georges T. Roos blickt in die Schweizer Geschichte der letzten vierzig Jahre und entwirft ein Szenario der kommenden vierzig Jahre. Der deutsche Zukunftsforscher Karlheinz Steinmüller reflektiert die hundertjährige Geschichte der Zukunftsforschung. Als Kind des zwanzigsten Jahrhunderts entstand sie als Reaktion auf die komplexen Problemlagen der Industriegesellschaft. Unser Mitglied Dr. Joël Luc Cachelin gibt uns Einblick in die drei Ebenen der organisationalen Zukunftsschau.

Ein Kapitel zur Vereinsgeschichte darf im Jubiläumsheft nicht fehlen – Co-Präsident Dr. Andreas M. Walker rekonstruiert die Vereinschronologie. Als Abschluss lassen uns die „grandes dames“ des Vorstandes der 90er Jahre – Altbundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz, Sylvia Egli von Matt und Elisabeth Michel-Alder – teilhaben, wie sie vor 20 Jahren Zukunftsforschung prägten.

Damit swissfuture eine attraktive Plattform für die Zukunftsdebatte bleibt, laden wir unsere Mitglieder zu einer Mitgliederumfrage via www.swissfuture.ch ein.

Auf der Grundlage der Studie Hoffnung2010 wollen wir auch in den kommenden Jahren erheben, welches Verständnis und Mass von Hoffnung in der Schweiz existiert – Hoffnung ist die Überzeugung, dass Zukunft stattfinden wird und positiv geprägt werden kann.

Mit der aktuellen Überarbeitung und branchenspezifischen Vertiefung der Szenarien 2010 – 2020 – 2030 zum Wertewandel in der Schweiz wollen wir einen aktiven Beitrag zur Debatte leisten, welche Werte die Schweiz der Zukunft prägen werden.

Dr. Andreas M. Walker und Cla Semadeni
Co-Präsidenten swissfuture

Die Verwaltung der Zukunft

Die Bundespräsidentin fordert in ihrer 1. August-Ansprache eine Debatte über die ferne Zukunft der Schweiz. Es stellt sich die Frage, in welchem Zeithorizont diese Zukunft liegen wird und wie sich die Verwaltung und die Welt in diesem Horizont verändern.

Link zu meinem Aufsatz für die Schweizerische Gesellschaft für Verwaltungswissenschaften SGVW:

http://www.sgvw.ch/d/fokus/Seiten/100913_zukunftverwaltung_walker.aspx