Noch 6 Tage – in Angst oder in Hoffnung?

Ein Countdown ist die Ankündigung einer Veränderung. Veränderungen provozieren Gefühle. Veränderungen fordern heraus. Veränderungen fordern Energie und Anstrengung.

Was wird sich verändern? Werde ich davon betroffen sein? Wird es besser oder schlechter? Grund zur Angst oder Anlass zur Hoffnung?

In Mitteleuropa erleben wir seit Jahren eine sehr positive und erfreuliche Gegenwart. Trotzdem setzt sich nur sehr langsam die Erkenntnis durch, dass wir deshalb eigentlich allen Grund haben, glücklich zu sein. Gefühle wie Zufriedenheit oder Dankbarkeit sind der schweizerischen und deutschen Kultur irgendwie fremd. Diese positiven Gefühle auszusprechen und sichtbar zu leben, sind uns noch viel fremder. Schliesslich könnten wir den Neid unserer Nachbarn auf uns ziehen. Die Bereitschaft, grosszügig und gastfreundlich zu sein und von unserem Überfluss zu teilen, ist nur wenig ausgeprägt. Wer weiss – höchstwahrscheinlich wird es in baldiger Zukunft wieder schlechter und deshalb müssen wir vorsorgen und sparen.

Ängste werden systematisch bewirtschaftet – von den Medien, von der Politik, von der Wirtschaft, von den Religionen. Seit über dreissig Jahren investieren zwei grosse schweizerische Finanzinstitute viel Geld zur Erhebung eines Angstbarometers und eines Sorgenbarometers.

Noch nie konnten wir einen so langen Weg in unsere persönliche Zukunft planen, kein früheres Jahrhundert kannte eine so hohe Lebenserwartung, eine so hohe soziale Sicherheit, eine so hohe innere und äussere Sicherheit. Warum fällt es uns so schwer, dankbar und zufrieden zu sein? Warum fällt es uns so schwer, zuversichtlich zu leben?

Bei jedem neuen Projekt erkennen wir sofort die Risiken. Bei jeder Veränderung erkennen wir sofort die Nachteile. Das Sprichwort „Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“ beschreibt die Lebenseinstellung eines manchen von uns.

Übrigens – wir nennen das nicht „Angst“, sondern Vorsicht und Vorsorge. Diese sind ja bekanntlich vernünftig und nicht so naiv und emotional wie „Hoffnung“.

The German Angst

Die deutsche Journalistin Sabine Bode beschreibt in ihrem lesenswerte Buch „Die deutsche Krankheit – German Angst“ dieses Phänomen von Mutlosigkeit, Grübeln und Zögern. Dabei erklärt sie aus historischer und kultureller Sicht die zugrunde liegenden kollektiven Ängste aus der Vergangenheit, die sich als gesellschaftliche Lähmung artikulieren und die uns im deutschsprachigen Mitteleuropa derart hemmen, Veränderungen und Reformen als Chancen zu begreifen. Die sind eine Last für unsere Zukunft.

 

 

 

 

 

 

Vier Grundformen der Angst

Der deutsche Psychoanalytiker Fritz Riemann stellte eine interessante Theorie zur Angst auf. Er definiert vier Grundformen der Angst:

  • die Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt,
  • die Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt
  • die Angst vor der Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit empfunden
  • die Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt

Aus diesen vier Grundformen der Angst leitet Riemann vier Persönlichkeitsstrukturen ab, wobei ich hier speziell auf den „zwanghaften Menschen“ hinweise. Er hat eigentlich Angst vor der Wandlung, diese empfindet er als Vergänglichkeit und Unsicherheit. Deshalb strebt er Dauerhaftes an. Er möchte sich häuslich niederlassen und die Zukunft zuverlässig und exakt vorbereiten und planen. Seine Angst betrifft die Vergänglichkeit, das Irrationale und Unvorhergesehene. Alles Neue ist für ihn ein Wagnis.

Kohärenzsinn

Im Rahmen seiner Theorien zur Salutogenese definierte der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky den „Sense of Coherence“ (SOC) zu Deutsch „Kohärenzsinn„. Drei Aspekte sind zentral, damit ein Mensch Veränderungen in gesunder Weise bewältigen kann:

  • Das Gefühl der Verstehbarkeit: Der Mensch braucht die Fähigkeit, Veränderungen zu erkennen und zu verstehen. Dazu muss er informiert werden, er braucht angemessene Erklärungen – er will keine Heimlichtuerei.
  • Das Gefühl der Handhabbarkeit: Der Mensch will das eigene Leben gestalten können. Er will bei der Planung, Entscheidung und Umsetzung von Veränderungen aktiv partizipieren – er will nicht als Opfer ausgeliefert sein.
  • Das Gefühl der Sinnhaftigkeit. Der Mensch will an einen Sinn in den Veränderungen glauben. Was sind Ursache und Ziel der Veränderungen? Was wird besser und wer wird davon profitieren? Wozu sind höhere Kosten oder sogar Opfer nötig?

Hoffnungsbarometer

Um dem weit verbreiteten Grundgefühl der Zukunftsangst in Mitteleuropa zu begegnen, initiierte ich 2009 als neugewählter Co-Präsident von swissfuture das „Hoffnungsbarometer„. Hoffnung ist in Europa ein sehr vielfältiges Konzept, es enthält unterschiedlichste Aspekte aus Philosophie, Psychologie, Soziologie und Theologie .

Die grossen Hoffnungen in Mitteleuropa betreffen die engsten partnerschaftlichen und familiären Beziehungen – entgegen allen Theorien der Soziologen zur Bedeutung der weak tails auf den Social Medias. Sowie ein gesundes und harmonisches Leben und eine sinnvolle Lebensaufgabe.

Die grossen Partner unserer Hoffnung sind unsere engsten Lebens- und Familiengefährten. Profis aus Wirtschaft oder Kirche rangieren weit hinten.

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