Historische Wild Cards und Black Swans

Beim Blick zurück – sowohl in historische Vorzeiten wie auch in die letzten Jahre und Jahrzehnte fällt auf, dass manche Entwicklung und Wendung überraschend auftrat. Der Gewinn von Schlachten, Entdeckungen aber auch Erfindungen waren zwar häufig professionell geplant, verliefen aber immer wieder überraschend und führten zu weitreichenden unerwarteten Folgen.

 

Die Entdeckung Amerikas oder der Erfolg des deutschen Reformators Martin Luther waren für die Zeitzeugen nicht absehbar.

 

Verlorenes Wissen um Naturkatastrophen

 

Insbesondere Naturkatastrophen, wie Vulkanausbrüche und Erdbeben, und Epidemien, wie die Pest oder die Grippe, trafen bis vor wenigen Jahrzehnten die Bevölkerung unerwartet und unvorbereitet. Da die notwendigen naturwissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnisse zum Verständnis dieser Phänomene fehlten, wurden diese Ereignisse immer wieder in vereinfachender Weise als Strafe Gottes gedeutet.

 

Bemerkenswerterweise finden sich in vielen Mythen und Legenden Hinweise auf ein naturwissenschaftliches Wissen im Volk: Die einheimische Bergbevölkerung in den Alpen wusste sehr wohl, welches Lawinenhänge waren und wo Bäche über die Ufer traten.  Über die Gegend von New Orleans wird berichtet, dass Indianer sie traditionell gemieden haben, da sie aus ihren Überlieferungen über das Hurrican-Risiko wussten.

 

Erst seit den Fortschritten der Bauingenieurstechnik und Geologie und der Fokussierung auf naturwissenschaftliche Statistiken seit den 60er Jahren ging solch traditionelles Wissen verloren – denn häufig waren solche Naturkatastrophen eben Jahrhundertereignisse, die dann aber in der Vergangenheit 60er bis 90er Jahren umso dramatischere Folgen zeigten, da Menschen in historischen Risikogebieten bauten.

 

Überraschungen der letzten Generation

 

Seit den grossen naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritten des 19. und 20. Jahrhunderts, die als Grundlage der Paradigmen der Planbarkeit und Machbarkeit des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens dienen, und seit religiöse Modelle zur Erklärung von Natur und Schickals als altmodisch und überholt gelten, wirken Schicksalsschläge und Überraschungen sowohl unsere Gesellschaft wie auch unsere einzelnen Leben umso schwerwiegender.

 

Beim Blick zurück kommen mir dabei sehr unterschiedliche unerwartete Ereignisse in persönliche Erinnerung, die grosse Wirkung zeigten:

 

Die olympische Idee, dass gemeinsame Sportanlässe Kriege und Gewalt zwischen Völkern verhindern könnte, wurde mit dem Massaker von München während den Olympischen Spielen am 5. September 1972 massiv in Frage gestellt. Acht Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation „Schwarzer September“ nahmen innerhalb des Olympischen Dorfes elf israelische Delegationsmitglieder als Geiseln. Alle israelische Geiseln, fünf Terroristen und ein deutscher Polizist wurden schliesslich getötet. Dies löste diverse israelische Vergeltungsmassnahmen nach den Spielen aus, die sich über einen Zeitraum von 20 Jahren erstreckten.

 

Die Ölkrise im Herbst 1973, die im Zusammenhang mit dem Jom Kippur Krieg durch die OPEC provoziert wurde, als die OPEC bewusst die Erdölfördermenge drosselte, um die westlichen Länder politisch unter Druck zu setzen. Innerhalb eines Monates stieg der Erdölpreis um 70%, innerhalb eines Jahres sogar um 400%. Diese Ölkrise demonstrierte erstmals die Abhängigkeit der westlichen Industrie und Gesellschaft von fossilen Brennstoffen. Die Endlichkeit der Verfügbarkeit von Energieressourcen wurde erstmals ein Thema und ist nun seit 40 Jahren ein immer wiederkehrendes Thema.

 

Das Jahr 1986 kann als das Geburtsjahr der „Risikogesellschaft“ bezeichnet werden. Dieses vom deutschen Soziologieprofessor Ulrich Beck geprägte Schlagwort war der Titel eines seiner 1986 erschienenen Bücher[1], das auch auf dem allgemeinen Buchmarkt sehr erfolgreich war. Besondere Beachtung fand dieses Thema, weil es im Jahr 1986 zu einer Häufung technischer Unfälle kam, die auch mir noch in lebendiger Erinnerung sind. An einige Beispiele sei hier erinnert: Am 28. Januar brach die US-Raumfähre Challenger auf ihrer Mission kurz nach dem Start auseinander. Alle sieben Astronauten starben dabei. Am 31. März prallte eine Boeing 727 in der Nähe von Mexiko-Stadt gegen einen Berg. Alle 166 Passagiere starben. Am 26. April kam es zur Reaktorkatastrophe in Tschernoby, einer der bisher schwersten Nuklear- und Umweltkatastrophen der Geschichte. Die Wolken mit dem radioaktiven Fallout verteilten sich über weite Teile Europas und über die gesamte nördliche Erdhalbkugel. Das Bedürfnis nach Information in der Bevölkerung war riesig. Die naturwissenschaftlichen und technischen Experten der Universitäten und der Behörden schafften es in den meisten Fällen nicht, sich in der Krisenkommunikation für die Bevölkerung verständlich auszudrücken. Am 31. August kollidierte im Schwarzen Meer ein sowjetisches Kreuzfahrtschiff mit einem Frachter, mehrere Hundert Passagiere und Besatzungsmitglieder starben innert weniger Minuten. Und schliesslich kam es am 1. November in lokaler Nähe zu meinem Heimat- und Wohnort Basel in der Schweiz zum Grossbrand beim Chemiekonzern Sandoz in Schweizerhalle, bei dem verseuchtes Löschwasser in den Rhein gelangte und ein grosses Fischsterben verursachte.

 

Obwohl Jahrzehnte lang erhofft, kam es schliesslich im Jahr 1989 überraschend schnell und plötzlich zum Zusammenbruch des kommunistischen Ostblock-Regimes in Europa. Am 6. Februar kam es zum ersten Treffen am Runden Tisch in Warschau, infolgedessen die Kommunisten in Polen ihre Macht abgaben. Am 15. Februar schlossen die sowjetischen Truppen ihren Rückzug aus Afghanistan ab. Am 26. März durften die Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion erstmal ihre Vertretungen im Volksdeputiertenkongress frei wählen. Am 2. Mai begann Ungarn mit dem Abbau seiner Grenzsperren nach Österreich. Am 4. Juni wurde bei den ersten demokratischen Parlamentswahlen in Polen ein nicht-kommunistischer Ministerpräsident gewählt.  Am 19. August wurde bei Sopron an der ungarischen Grenze zu Österreich kurzzeitig ein Grenztor geöffnet, so dass etwa 700 DDR-Bürger fliehen konnten. Am 11. September öffnete Ungarn schliesslich seine Grenzen zu Österreich. Ab dem 2. Oktober kam es in Leipzig zu den Montagsdemonstration, an denen zuerst Zehntausende und schliesslich Hunderttausende in Leipzig, Dresden und Berlin teilnahmen. Am 9. November kam es zur Öffnung der Berliner Mauer und zur Öffnung der innerdeutschen Grenze.

 

Der politische, militärische und wirtschaftliche Machtkampf zwischen Ost und West fand überraschend schnell ein Ende, das Zeitalter der neoliberalen Marktwirtschaft begann und die Megatrends „Globalisierung“ und „Mobilität“ konnten weltweit wirksam werden, da entscheidende Grenzen wegfielen.

 

In den späten 90er Jahre trat die „New Economy“ ihren Siegeszug an, eine Wirtschaftsform, die den Megatrend der Virtualisierung vorwegnahm. Hochangesehene Universitäten stellten die klassischen Wirtschaftstheorien in Frage und viele Jungunternehmer wurden an Technologie- und  Nebenbörsen sehr schnell sehr reich. Infolgedessen versuchten auch viele Sparer und Kleinanleger mit spekulativen Geschäften an der Börse Geld zu verdienen. Dieser Traum des kapitalistischen Schlaraffenlandes platze aber sehr schnell und plötzlich, als im März 2000 diese unter dem Namen „dotcom-Blase“ bekannte Spekulationsblase unerwartet platzte – der Markt brach beinahe vollends in sich zusammen. Der zuvor noch grenzenlos boomende IT-Markt, der durch die Jahrtausendwende und die Angst vor dem „Milleniums-Bug“ noch zusätzlich angeheizt wurde, musste sich binnen eines Jahres mit Arbeitslosigkeit vertraut machen. Viele Jungunternehmer und Kleinanleger verloren ihr ganzes Vermögen.

 

Der damalige Verwaltungsratspräsident der Schweizerischen Grossbank UBS, Marcel Ospel, meinte zurückblickend am 24. Juni 2003 in einem Gespräch mit dem früheren Züricher Stadtpräsidenten Elmar Ledergerber in der schweizerischen Wirtschaftszeitung „Bilanz“ in lapidarer Weise: „So unangenehm es ist: Zyklen sind Teil des Geschäfts, Punkt.“

 

Umso mehr überrascht es, dass scheinbar kaum jemand Mitte 2007 auf ein Platzen der US-Real Estate Bubble vorbereitet war, die vor Augen führte, wie sehr der Megatrend „Globalisierung“ bereits Realität war, weil diese in den USA verursachte Krise die ganze Weltwirtschaft in Mitleidenschaft ziehen konnte.

 

Welches sind die relevanten Wild Cards?

 

Spannend sind letztlich die Aufgaben, die Wild Cards zu bestimmen, die uns Informationen darüber liefern, welches die negierten Risiken und die verdrängten Tabus unserer Gesellschaft sind und welche Ereignisse die Werteordnung und das Verhalten unserer Gesellschaft wirklich verändert haben.

 

Eben nicht als allmähliche und schleichende Veränderung wie ein Megatrend, der sich über Jahre aufbaut und jahrzehntelang wirkt, sondern als überraschendes und zuvor unterschätztes Ereignis.

 

Welches waren „Black Swans“ und „Wild Cards“ unserer Generation, an die Du Dich noch erinnern kannst?


[1] BECK ULRICH (196) Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt a.M., ISBN 3-518-13326-8

Ein Kommentar zu “Historische Wild Cards und Black Swans

  1. Mir fallen reflexartig die großen Naturkatastrophen ein, die sich als Wild Cards auf meine Festplatte gebrannt haben (Katrina, der Tsunami von 2004 oder mal ganz historisch: Pompeij). Der Natur scheint dabei das letzte unkontrollierbare Element inne zu wohnen. Eine solche Wild Card mit politischen Folgen war sicher die Flutkatastrophe 2002 in Deutschland.

    Deutschland steuerte in diesem Zeitpunkt auf die Bundestagswahl im September 2002 zu. Die Kandidaten waren der amtierende Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und der Herausforderer der Union, der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU).

    Dauerregen sorgte bereits Ende Juli für Überschwemmungen in Niedersachsen und Hamburg. Mitte August 2002 bedrohte das Hochwasser für Überschwemmungen in den Bundesländern Baden-Württemberg, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. Am stärksten betroffen waren jedoch Bayern und Sachsen. Ursache für die gewaltige Wasserlawine waren die enormen Regenfälle, die das Tief „Ilse“ über Sachsen, Bayern und Tschechiens entladen hatte. Allein in Dresden prasselten laut Agenturmeldungen innerhalb von 24 Stunden 158 Liter pro Quadratmeter Regen auf den Boden und in die Elbe, die ohnehin bereits kräftig angeschwollen war. „Es regnete Tage lang in Strömen, doch niemand sah die Katastrophe voraus – für die Sachsen kam das Jahrhunderthochwasser völlig überraschend. Entsprechend schockierend ist für viele Menschen das Ausmaß der Schäden“, schrieb die AP damals (Ellmers 2002: OS)

    Vor der Katastrophe sah es nach einem Wahlsieg der Union aus. Stoiber sprach in dieser Zeit von Schröder als seinem „Amtsvorgänger“. Die Flut änderte alles: „Schröder regierte, Stoiber reagierte“, schrieb Jürgen Leinemann im SPIEGEL (Leinemann 2002: 48) Schröder machte sich schnell in die Hochwassergebiete auf und versprach unbürokratische Hilfe (niemand sollte nach der Flut schlechter gestellt sein als zuvor). Stoiber dagegen hatte die Katastrophe tagelang aus der Entfernung beobachtet und weilte im Urlaub auf der Nordseeinsel Juist. Außerdem fehlte in seinem Kompetenzteam ein Experte für Umweltpolitik. Schröder profilierte sich auf der Zielgeraden als der anpackende Kanzler. Spiegel Online zitiert den britischen Independent zur Hochwasserkatastrophe:

    „Schröder ist kein religiöser Mensch. Aber wenn er die Wahl doch noch gewinnt, kann er einzig und allein dem Allmächtigen dafür danken.“ (Müller von Blumencron 2002: O.S)

    Rot-Grün erhielt bei der Wahl am 22. September neun Sitze mehr als Schwarz-Gelb (306 zu 295).

    Ellmers, Frank: Niemand sah die Katastrophe voraus; Trotz strömenden Regens; Ausmaß der Schäden für viele schockierend. Associated Press, 13.08. 2002.
    Leinemann, Jürgen: Das Duell. In: Der Spiegel. 26. August 2002. S. 48 – 68.
    Müller von Blumencron, Mathias: Gottesgeschenk für die Wahlkämpfer. Spiegel Online 17.08. 2002.

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