Die Zeit der Sechziger bis Neunziger Jahre war geprägt vom Glauben an die Moderne, an die Wissenschaft und an die Machbarkeit technischer Lösungen.
In unserer globalen und dynamischen Welt des 21. Jahrhunderts stoßen wir nun zunehmend auf neue Herausforderungen, die wir nicht einfach so bewältigen können. Eine Welt, die zunehmend schnell und komplex ist, überfordert viele von uns. Volkswirtschaftliche, politische und technische Entwicklungen erscheinen undurchsichtig und willkürlich. In unserem Alltagsleben fühlen wir uns häufig ohnmächtig, wenn wir die Medien oder das Verhalten unserer politischen und wirtschaftlichen Führungskräfte beobachten. Wem sollen wir heute vertrauen?
Deshalb suchen viele von uns möglichst einfache Erklärungen und einfache Weltbilder. Sie finden diese in der rechtspopulistischen Politik, in der Unterhaltungsindustrie oder in einfachen religiösen Systemen. Die Unterhaltungsindustrie hat zudem wieder die Tore zu Fantasy und Aberglaube geöffnet, die Ideale der Aufklärung sind vergessen.
Gleichzeitig ist das Misstrauen in traditionelle Institutionen, wie zum Beispiel den Führungsapparat der katholischen Kirche, groß. Europa hat im letzten Jahrtausend immer wieder unter Religionskriegen gelitten, aber ferne Kulturen wie der Buddhismus oder alte Stammesreligionen werden verherrlicht, ohne dass wir sie wirklich kennen. Viele glauben an transzendente Welten und Wesen – doch sind dies häufig abstruse und selbstgemachte Patchwork-Vorstellungen. Für welche dieser laufenden Entwicklungen erhoffen Sie sich nun eine Renaissance? Die relevante Frage an uns lautet doch, ob nun der christliche Glaube einfach eine Flucht in weltfremde Heilsvorstellungen ist, in denen wir glauben, dass Probleme einfach weggebetet werden können – oder ob das Christentum uns Mut und Hoffnung gibt, dass wir uns als mündige und freie Menschen den Herausforderungen stellen.
Die im Titel gestellte Frage steht und fällt mit der Definition des Begriffs «Religion». Bis heute ist jedoch keine anerkanne Definition dieses Begriff gelungen.
Zu Beginn seines Artikels «Definition der Religion» im Handbuch der religionswissenschaftlichen Grundbegriffe hält Günter Kehrer fest: «In keiner Wissenschaft wird so anhaltend und so kontrovers über den Gegenstand, der der Disziplin den Namen gibt, gestritten wie in der Religionswissenschaft und ihren Nachbardisziplinen.» (HrwG, Bd. 4, 1998, S. 418) und im Vorwort des Oxford Lexikon der Weltreligionen wird – in Anlehnung an Augustins Aussage über die Definition der Zeit – vor einer Zusammestellung von berühmten Religionsdefinitionen – festgestellt: «Es ist ein seltsame Angelegenheit mit der Religion: Wir alle wissen, was sie ist, bis uns jemand danach fragt.»
Die Antwort auf die oben gestellte Frage ist weniger von historischen Gegebenheiten als vielmehr von der bei der Beantwortung verwendeten Definition von Religion abhängig.
Sogar schon in das Stellen der Frage fliesst die Problematik der Religions-Definition mit ein: Kann es überhaupt eine Re-Naissance der Religion geben? Religion könnte z. B. auch als (in verschiedenen Formen) immer vorhanden gedacht werden.
Freud schreibt sogar, dass wer nach Sinn und Wert des Lebens frage, sei krank. Die Religion stammt für Freud aus dem Wunschdenken des Menschen, der damit seine Angst vor den Gefahren des Lebens beschwichtigt, sich einer sittlichen Weltordnung versichert und durch das ewige Lebens sich eine Verlängerung seiner irdischen Existenzschaft. Nachdem der Mensch schon nicht mehr Mittelpunkt der Welt war (kopernikanische Wende), und nach Darwin nicht mehr als ein nackter Affe, musste Freud uns auch noch sagen, dass wir nicht Herr im eigenen Haus sind. (Der Mensch wird aus dem Zentrum ins X gestossen. vgl.: Nietzsche, Schlechta III, S. 882.)
Aber das stimmt meines erachtens nicht. Wenn wir tatsächlich mittels der Religon unsere Angst beschwichtigen, müssten wir heute – neben allen Terrorwarnungen und anderweitigen Krisen, welche Angst auslösen – gläubiger sein.
Aus psychotherapeutischer Sicht ist Religiosität ein menschliches Phänomen und die Klienten bzw. Patienten bringen die Frage nach dem Glauben an Gott sehr oft ein!
Wie heisst es doch bereits in der Bibel (Matthäus 9. 22) „Dein Glaube hat dich heil gemacht“.
Geistig sein und auch religiös sein, heisst offen sein für alle Möglichkeiten. Die kommende Zeit wird unter der Frage (Kant) stehen: Was ist der Mensch? Woher komme ich, was bin ich, wohin gehe ich? Menschen zu allen Zeiten erahnen diese Fragen, welche in einem stecken. Die grösste Entwürdigung des Menschen ist die Versachlichung des Menschen. (Kant)
Nur weil Institutionen die Menschen enttäuschen und auf die Fragen keine authentischen Antworten liefern können bzw. wollen, bedeutet dies nicht, dass der Mensche diese Antworten nicht wünscht.
So sah Nietzsche das Christentum zerbrechen, weil es sich vom unmittelbaren Leben abgekehrt hat. Das Zerbrechen offenbart, was die Religion war: Werk des Menschen und Wahnsinn des Menschen. Am tiefsten drückt sich Nietzsches Nihilismus aus im Satz: „Gott ist tot.“ Und weiter sagt er: „Wohin ist Gott? Ich will es euch sagen. Wir haben ihn getötet, – ihr und ich!“
Der Tod Gottes bedeutet für Nietzsche, dass der Mensch nicht mehr Gottes Nähe erfährt. Das Wort „Gott“ ist für Nietzsche leer, es werden andere Interessen damit „bemäntelt“.
Nietzsche lehnt jegliche Sinnrechtfertigung aus dem Jenseits ab. Es gibt für ihn keine vollkommene Welt auf die wir uns hinbewegen, es endet alles radikal im Tod. Jegliche jenseitige „Sinn-Rechtfertigung“ aus dem Glauben lehnt er ab.
Je stärker die von den Religionen angebotenen Sinndeutungssysteme fragwürdig werden, desto stärker versucht der Mensch, eigene, oder besser gesagt neue Sinndeutungssysteme zu entwickeln (Nietzsche). Doch kann es gelingen, wenn sich der Mensch an die Stelle Gottes stellen will? Ich bezweifele es.
Will man jemanden dazu bringen, dass er an Gott glaubt, dann muss man ihm Gott glaubhaft (be-lievable) machen – und vor allem muss auch ich selbst glaubwürdig (credible) wirken.
Viktor E. Frank – der Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse hat einen interessanten vergleich zwischen dem seelischen Heil und dem Seelenheil angestellt:
„Welches Verhältnis besteht nun zwischen ärztlicher und priesterlicher Seelsorge? Gehen wir aus von ihren Zielsetzungen: Das Ziel ärztlicher Seelsorge, überhaupt das Ziel der Psychotherapie, ist seelische Heilung. Demgegenüber ist das Ziel priesterlicher Seelsorge, überhaupt das Ziel der Religion, das Seelenheil. Nun hat die Religion zwar kein psychotherapeutisches Motiv, aber einen psychohygienischen Effekt. Ist es doch so, dass sie dem Menschen eine unvergleichliche Geborgenheit und geistige Verankerung ermöglicht und solcherart ungemein zur Erhaltung seines seelischen Gleichgewichtes beiträgt. Auf der anderen Seite sehen wir, wie die Psychotherapie – ohne es zu wollen, ja, ohne es auch nur wollen zu dürfen – in vereinzelten Fällen den Patienten zurückfinden lässt zu verschütteten Quellen ursprünglicher Gläubigkeit: nicht per intentionem, sondern per effectum.
Nicht wir Ärzte tragen Philosophie oder gar Theologie in die Medizin hinein; sondern es sind unsere Patienten, die ihre philosophische Problematik an uns herantragen; denn »die Patienten sind es, die uns vor die Aufgabe stellen, in der Psychotherapie selbst die Aufgabe der Seelsorge zu übernehmen« (Frankl, V.E., Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Wien 1982.)
Religion lässt sich, in der Tat, definieren als Erfüllung eines »Willens zum letzten Sinn«.
Oder in den Worten von Albert Einstein: »To be religious is to have found an answer to the question: What is the meaning of life?« Und dann gibt es eine weitere Definition, die uns Ludwig Wittgenstein anbietet: »An Gott glauben heisst, sehen, dass das Leben einen Sinn hat.« Wie wir sehen, stimmen da der Physiker Einstein, der Philosoph Wittgenstein und der Psychiater Frankl mehr oder weniger miteinander überein.