Die Kanzel gehört heute auch ins Internet

Ein Zukunftsforscher über das Profil und die Identität der Reformierten Landeskirchen

Der Strategieberater und Zukunftsforscher Andreas Walker erklärt, wie die Trends unserer Zeit die Entwicklung der Kirche beeinflussen und wie die Kirche auf die Veränderungen reagieren könnte. Das Gespräch führte Corina Fistarol von der reformierten presse. Das Interview erschien am 1. Oktober 2010 in Nr. 39, Seite 4:

«Reformierte Presse»: Wie nehmen Sie die Reformierte Kirche in der Schweiz heute war?

Andreas Walker: Nicht einheitlich. Jede Landeskirche erscheint anders und jede ihrer Filialen ist von der Kirchgemeinde und ihrem Pfarrer geprägt. Es gibt eine grosse Bandbreite an Frömmigkeitsstilen, so dass in der öffentlichen Wahrnehmung kein einheitliches Bild entsteht. Zudem unterscheiden die Medien und die kirchenferne Bevölkerung kaum zwischen reformiert, katholisch und der Vielzahl an Freikirchen.

Wo erkennen Sie das Verbindende in der Kirche?

Immer weniger in der formellen Zugehörigkeit zu einer Volkskirche oder in einem gemeinsamen Ritual. Vatikan, ICF oder die evangelikal ausgerichtete Gellertkirche in Basel haben ein erkennbares Profil, viele Gemeinden aber nicht. Die Reformierte Kirche ist geprägt durch ihre Filialen, aus dem Selbstverständnis heraus sollten Christus und Evangelium das Verbindende sein, doch dies wird vielfältig interpretiert.

Wird diese Vielfältigkeit als Profillosigkeit empfunden?

Ich würde nicht nur von Vielfalt als vielmehr von Unverbindlichkeit sprechen. Die Entwicklung des Wertepluralismus hat leider nicht nur zu Toleranz sondern auch zu Beliebigkeit und Willkür geführt. So wächst nun auch wieder das Bedürfnis nach Ordnung und Klarheit.

Weil so Identität entsteht?

Dass sich eine Identität im Laufe eines Lebens weiterentwickelt ist normal. Doch heute haben immer mehr Menschen Patchwork-Identitäten. Flexibilität und Dynamik sind wichtig, wie Chamäleons passen wir uns unserer Umgebung an – Familie, Beruf oder Freizeit sind häufig drei Leben, die wir wechseln. Für viele ist das anstrengend und für viele ist das unglaubwürdig. Einfache Weltbilder und einfache Antworten sind wieder attraktiv. Deshalb ist wohl die kleinbürgerliche SVP-Mentalität so attraktiv.

Welche Bedeutung haben die neuen Medien und die Globalisierung?

In der virtuellen Welt inszenieren sich die Menschen, erfinden sich zum Teil sogar neu, Träume und Alpträume werden virtuelle Realität. Auch schweizerische Christen erfinden heute ihre religiöse Identität mit Elementen aus allen Weltreligionen und Kulturen. Christentum wird so zu einer Patchwork-Religion, viele Kirchenmitglieder kennen Kern und Grenzen des Christentums nicht mehr.

Inwiefern hat die zunehmende Medialisierung Auswirkungen auf die Kirche?

Die Kirche sollte die Realität des heutigen Lebens akzeptieren. 4 Millionen Schweizer sind täglich im Internet, über 2 Millionen haben ein Facebook-Account. Warum lernen Pfarrer nur, auf Holzkanzeln zu predigen aber nicht in YouTube und auf Facebook? Im Internet ist das Publikum zahlreicher als unter der Kanzel am Sonntagvormittag. Die Werbung hat das längst erkannt. „Die Kirche gehört ins Dorf“ bedeutet doch, dass die Kirche dahin gehört, wo die Leute tatsächlich sind: sei dies ins Internet, in die Nähe von Arbeitsplatz, Kinderspielplatz, Altersheim oder Fussballstadion.

Halten Sie also nicht viel vom Territorialgesetz?

Der Lebensraum ist heute nicht mehr durch den Schlafplatz sondern durch den Arbeitsplatz und zunehmend durch die virtuelle Welt definiert, bei den Jungen sowieso. Die Kirche investiert viel Geld in dezentrale Personalressourcen und mittelmässige Predigten, die kaum jemand hört. Warum produziert sie nicht Clips für YouTube oder Apps für den iPod? Übrigens – für Familien mit Kindern und für Senioren ist die Nähe im Quartier immer noch sehr wichtig.

Die Religion soll also dort stattfinden, wo Gemeinschaft ist?

Gemeinschaft ist ein zentraler christlicher Wert. Und das kann überall sein, wo zwei oder drei sich in Christi Namen versammeln. Der Staat definiert sich über das Territorium. Aber weder Wirtschaft, noch Wetter noch Pandemien halten sich an Kantons- oder Gemeindegrenzen.

Wenn schon keine territoriale, kann die Kirche eine spirituelle Identität vermitteln?

Viele Leute suchen heute ihre Identität – sind Hautfarbe, Sprache oder Pass zukünftig wirklich noch identitätsstiftend? Wissen die Reformierten, welches ihre Spiritualität ist? Im Christentum würde es zahlreiche spirituelle Vorbilder geben: in der Bibel, bei den Wüstenvätern, bei Bruder Klaus oder bei den russischen Starzen. Diese sind mindestens so attraktiv wie indische Gurus und tibetanische Lamas. Fehlt der Reformierten Kirche der Mut zur Spiritualität? Vielleicht bringt Gottfried Locher da neue Impulse?

Könnte die Reformierte Kirche gesellschaftliche Identität vermitteln?

Aufgrund des Machtmissbrauchs der Kirche im Mittelalter, des Dreissigjährigen Krieges und der Aufklärung verdrängen wir Religion hinter Kirchenmauern und ins Privatleben – der Glaube ist weltfremd geworden. Heute erkennen wir, dass die neoliberale Wirtschaftsordnung ohne die Werte der protestantischen Wirtschaftsethik nicht funktioniert. Die letzten Jahre beweisen, dass die Wirtschaft sich nicht selbst diszipliniert hat. Wer definiert nun die zukünftigen Werte? Der Staat, nachdem wir im 20. Jahrhundert mehrmals erlebt haben, wohin totalitäre staatliche Systeme führen können? Bibel und Kirchengeschichte lehren, dass christliche Werte keine Privatsache sind sondern den gesellschaftlichen Diskurs herausfordern. Medien, Wirtschaft, Unterhaltungsindustrie und Politik mischen sich überall ein – warum sollte sich gerade die Kirche immer heraushalten?

Hätte die Kirche auch dadurch die Chance, identitätsstiftend zu wirken?

Schon, aber die Frage, was wirklich Identität stiftet, muss neu diskutiert werden. Unser Verständnis von Kirche ist stark von der mitteleuropäischen Kultur, von Aufklärung und Bürgertum, vom deutschen Bildungsideal und von der weissen Hautfarbe geprägt. Statistisch gesehen stammt heute der „globalisierte Christ“ von der Südhalbkugel, ist farbig und Katholik oder Pfingstler.

Dr. Andreas M. Walker ist Strategieberater, Gründer von weiterdenken.ch und Co-Präsident von swissfuture, der Vereinigung für Zukunftsforschung. Über «Pluralismus und Profil in der Kirche » sprach er an der Aussprachesynode der Evangelisch-reformierten Baselbieter Kirche am 9. September. Er ist Mitglied der Basler Münstergemeinde.

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