Unsere schweizerische Bundespräsidentin Doris Leuthard fordert in ihrer 1.-August-Ansprache eine Debatte über die ferne Zukunft der Schweiz. Dies fordert zur Frage heraus, in welchem Zeithorizont diese ferne Zukunft liegen wird und wie sich die Welt in diesem Horizont verändern könnten.
Wann wird die „ferne Zukunft“ stattfinden?
Die Bundespräsidentin selbst gibt in ihrer 1.-August-Ansprache die Antwort, wann die „ferne Zukunft“ beginnt: in 10 Jahren. Diese Antwort erstaunt.
Wenn der eigene Zeithorizont durch die Medienlandschaft definiert wird, in der die gedruckte Tageszeitung am Frühstückstisch bereits alt ist, weil sie nur Mitteilungen von gestern erhält und wichtige und unwichtige Neuigkeiten heute binnen Minuten in die Internet News und in die virtuelle Social Networks finden, liegt dieser Horizont tatsächlich ewig weit weg. Auch beim spekulierenden Blick auf Börse und Finanzmärkte, die sich auf Quartals- und Jahreszahlen stützen, sind 10 Jahre eine unabschätzbar ferne Zeit. Obwohl eigentlich Aktien immer noch als langfristiges Investment gelten und die Rendite von Aktien gegenüber Obligationen erst bei einem Anlagehorizont von mehr als 25 Jahren zu 100% überlegen ist.[1] In der Politik ist die Legislaturperiode von 4 Jahren ein wichtiger Zeitraum, 10 Jahre wären also 2 ½ Legislaturperioden – aktuell kaum seriös vorhersagbar, wie dann die Zusammensetzung unseres Bundesrates aussehen wird. Für Politisierende in der Tat ein sehr langer Zeithorizont. Die mittlere Amtsdauer eines Bundesrates betrug in den letzten 100 Jahren rund 9 Jahre, nur 42% der Bundesräte waren länger als 10 Jahre im Amt – aktuell nur ein einziges Mitglied, das dieses Jahr zurücktreten wird.[2] Bei den Parlamentsangehörigen sind 59% kürzer als 10 Jahre in ihrem Amt.[3] Somit liegt die Vermutung nahe, dass die 10 Jahre nicht das kalendarische Jahr 2020 betreffen, sondern symbolisch interpretiert werden sollen: 10 Jahre liegen gemäss den vorherigen Vergleichen eigentlich jenseits des unmittelbaren Horizontes eines Politiker – es geht darum weiter zu denken als der eigene Zeithorizont.
Mit Blick aufs menschliche Leben dürfen wir heute von einer Lebenserwartung von rund achtzig Jahren ausgehen.[4] 10 Jahre sind rund 1/8 eines Menschenlebens. Mitarbeitende mit Berufsbildung erwartet eine Erwerbszeit von 50 Jahren, also 1/5 der Erwerbsperiode.[5] Wer heute ein Hochschulstudium avisiert, muss von 18 Jahren Schul- und Studienzeit ausgehen, 10 Jahre sind also etwa mehr als die Hälfte.[6] Bei der Pensionierung mit 65 Jahren dürfen noch rund 20 Jahre Lebenserwartung erwartet werden.[7] In Prozenten eines Menschenleben gerechnet sind 10 Jahre somit plötzlich eine Zeitspanne, die tatsächlich in die Verantwortlichkeit und Planung des menschlichen Vorstellungshorizontes einbezogen werden sollte. Mit Hinblick auf das Ideal der Nachhaltigkeit, bei dem wir Lebensgrundlagen von nachfolgenden Generationen sicherstellen möchten, wäre es eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass wir mindestens 10 Jahre weit denken.
Was hat sich in den letzten 10 Jahren verändert?
Um die Entwicklungsmöglichkeiten innert 10 Jahren vorstellbar zu machen, hilft ein Blick zurück – in die gute alte Zeit der Schweiz zum Jahrtausendwechsel. Im Jahr 2000 galt noch die Zauberformel im Bundesrat, die Schweiz war noch nicht in der UNO und den EURO gab es noch nicht als Bargeld. Die Krisen und Katastrophen der folgenden Jahre waren noch unvorstellbare Wild Cards, die höchstens für apokalyptische Schwarzmaler oder für Redakteure von Krisenszenarien der Armeestäbe vorstellbar waren: 9/11 in New York, das Attentat im Zuger Parlament und das Grounding der Swissair im 2001, der Zweite Irakkrieg im 2003, der Tsunami im 2004 und der Hurrikan Katrina im 2005. Vor 10 Jahren hatte der Durchbruch des Internet bei den KMU eben erst stattgefunden, es waren die Zeiten vor Windows XP und vor Web 2.0. Es gab noch kein iPod geschweige denn ein iPhone. Der Klimawandel war in der Öffentlichkeit noch kein Thema und wir durften uns noch über warme Sommer freuen. Anfangs des Jahres 2000 glaubten wir noch an die New Economy und waren in New Technology im New Markets überinvestiert. Niemand ahnte, dass die Börsenkurse im kommenden Jahrzehnt mit dem Platzen der dotcom-Blase ab März 2000 und der Subprimekrise im Frühsommer 2007 gleich zwei Mal unerwartet und weltweit einbrechen würde und dass sogar die grösste Bank der Schweiz vor dem Aus stehen könnte. Privatisierung war in aller Munde, die Aufspaltung der PTT hatte soeben erst stattgefunden, der Börsengang der Deutschen Post stand unmittelbar bevor.
Wie gesagt: dies waren die guten alte Zeiten vor 10 Jahren, und im Jahre 2020 Jahren werden wir auf die guten alten Zeiten des Jahres 2010 zurückschauen.
[1] http://www.adnovis.ch/deutsch/publikationen/raffaello-tondolo/erwartete-anlagerendite-und-ho.html
[2] http://www.admin.ch/br/dokumentation/mitglieder/abisz/index.html?lang=de
[3] http://www.parlament.ch/d/dokumentation/statistiken/Seiten/amtszeit.aspx
[4] http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/06/blank/key/04.html
[5] Vgl. http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/15/04/ind4.indicator.40201.402.html?open=1,4,407,406#406
[6] http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/15/06/key/ind8.indicator.80304.803.html?open=146#146 und http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/15/06/key/ind1.indicator.12304.1203.html
[7] http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/06/blank/key/04.html
Wow, der Beitrag beeindruckt! Vor allem wenn man den Blogtitel betrachtet und diesen Beitrag liest, merkt man: Der Name des Blogs passt.
Ich denke selber auch oft, wie extrem sich die Welt schon verändert hat (und ich bin ja wirklich noch jung). Das Internet gibt es noch nicht so lange und ich halte es schon für sozusagen «selbstverständlich».