Fachleute und Entscheidungsträger täuschen sich in ihren Meinungen
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutete sich der Durchbruch des motorisierten Individualverkehrs an – und seit jener Zeit täuschen sich Fachleute und Entscheidungsträger in ihren Meinungen zur weiteren Entwicklung der Mobilität. Der deutsche Kaiser Wilhelm II glaubte am Ende des 19. Jahrhunderts noch an die Zukunft des Pferdes und erachtete das Automobil nur als vorübergehende Modeerscheinung. Gottlieb Daimler, der grosse deutsche Autopionier, war 1901 noch überzeugt, dass der weltweite Markt für Automobile eine Million nicht überschreiten werde – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren. Und Henry Ford wird nachgesagt, er sei überzeugt gewesen, dass sein Modell T nur in der Farbe schwarz verkäuflich sei. „Verkehrsprognosen sind rückblickend gesehen in aller Regel falsch gewesen. Immer nämlich ist die Zunahme der Mobilität unterschätzt worden.“, sagte sogar der scheidende Schweizer Verkehrsminister Moritz Leuenberger[1]:
Eine Balance zwischen Sesshaftigkeit und Neo-Nomadismus
Zwar zeigen uns das kulturgeschichtliche Phänomen der Sesshaftigkeit und das Institut von Ehe und Familie, dass der Mensch das Bedürfnis nach Stabillität hat. Der Lebensraum soll abschätzbar, der Besitz soll definierbar und verteidigbar und die Beziehungen sollen überschaubar und zuverlässig sein. Zugleich aber hat der Mensch auch das Bedürfnis nach Abwechslung und Bewegung. Dieses gewinnt im religiösen Pilgertum sogar eine spirituelle Bedeutung.
Das menschliche Leben spielt sich ab in der Balance zwischen Grenzen zum Schutz und zur Definition der Identität einerseits, aber andererseits auch in den Herausforderungen des Grenzen Überwindens und des Brückenbaus.
Die aktuellen Grenzen
Relevante Grenzen für unser Mobilitätsbedürfnis finden wir heute
- in der billigen Verfügbarkeit von fossilen Brennstoffen als Voraussetzung, dass Verkehr so billig bleibt und somit für die Masse erschwinglich bleibt,
- in der Verfügbarkeit von Verkehrsraum, der immer stärker in Konkurrenz zu Wohn- und Arbeitsraum steht, insbesondere weil Verkehr durch Lärm und Luftschadstoffe einen „Schattenraum“ beansprucht, der immer weniger akzeptiert wird,
- in der Selbstregenerierung der Luft und des Klimas als Lebensgrundlage
Das Dilemma der Mobilität
Entscheidend bei dieser Betrachtung ist, dass sich Stärken und Anforderungen der Sesshaftigkeit einerseits und des Neo-Nomadismus andererseits in Konkurrenz befinden. Die Notwendigkeit der Mobilität ist nicht mehr ein normativer Erfolgsfaktor zum Überleben, die negativen Auswirkungen werden von den Betroffenen nicht mehr widerstandslos erduldet und auch die Verursacher sind nicht willens, die Vorteile um jeden Preis durchzusetzen. Zwar legen die Schweizer durchschnittlich pro Person pro Jahr über 17‘000 Kilometer zurück, davon über 10‘000 km mit dem Auto.[2] Die im Durchschnitt täglich zurückgelegte Distanz pro Person (ab 10 Jahren) liegt bei 38 km, über 26 km mit dem Auto.[3] Dabei wird aber nur etwa ein Viertel der Verkehrszeit für den eigentlichen Arbeitsweg aufgewendet. Etwa die Hälfte wird für den Freizeitverkehr gebraucht. [4] Über 200‘000 Pendler haben einen Arbeitsweg, der länger als eine halbe Stunde ist.[5] Zugleich strebt der Bundesrat an, den Ausstoss von Treibhausgasen bis 2020 um 20% und um 50% bis2050 zu senken.[6] Und die Opposition der Bevölkerung gegen jegliche Art von Lärmemissionen steigt – sein dies Militärflugzeuge, Kindergeschrei, Kirchenglocken, die Angst vor Muezzinrufen – oder eben Strassenlärm.[7] Strassenlärm ist in der Schweiz die bedeutendste Lärmquelle. Rund 1,2 Millionen Personen sind tagsüber schädlichem oder lästigem Strassenverkehrslärm ausgesetzt, nachts sind es immer noch rund 580 000 Personen.[8]
Who is the most responsive to change?
Seit Ende des 19. Jahrhunderts befinden sich Benzin und Elektrizität im Wettkampf als Antriebssystem für den motorisierten Verkehr.[9] Welches Antriebssystem und welches Verkehrskonzept werden zu Beginn des 21. Jahrhunderts die drei neuen Grenzen des Mobilitätssystems überwinden oder die beste Optimierung innerhalb dieser Grenzen bieten? Gemessen an der Anzahl Personenkilometer ist der motorisierte Individualverkehr auf der Strasse mit 75% der stärkste Verkehrsteilnehmer und jeder zweite Einwohner hat einen PW.[10]
Doch wie sagte schon Darwin? „It’s not the strongest of the species that survive, nor the most intelligent, but the most responsive to change.“[11]
Guter Artikel. Ich glaube auch, dass wir müssen umdenken müssen.
Wollen Sie denn eine Prognose wagen? Ist der motorisierte Individualverkehr (MIM) flexibel genug für das 21. Jahrhundert?
Wird noch kommen 😉
Dann freue ich mich drauf und bin gespannt auf Ihre Meinung 🙂
Müsste man nicht darüber nachdenken, ob wir uns die heutige, unbeschränkte Mobilität noch leisten können und wollen? In der Schweiz wird ja das Angebot (Verkehrsinfrastrukturen) UND die Nachfrage (Verbilligung von öV-Abos, Abzugsfähigkeit der Wegkosten bei den Steuern) subventioniert…